In allen Strategieveröffentlichungen der deutschen Automobilhersteller ist das Wort „Digitalisierung“ zu finden. Wenn diese Ankündigungen jedoch bloße Lippenbekenntnisse bleiben, sehe ich bei dem Rennen um die digitale Auto-Krone völlig andere Player den Maßstab setzen. Während heute vor allem Absatzvolumen und Marktanteil zur Definition von Erfolg in der Automobil-Branche herangezogen werden, lässt sich die Liste möglicher Kennzahlen für digitale Angebote und Services beliebig um Kennzahlen wie Conversion Rate, Warenkorbgröße oder Stammkundenquote erweitern.

Neben diesen digitalen Hürden liegen noch viele weitere Herausforderungen vor den Herstellern:

  • der Shift vom Verbrennungs- zum Elektromotor
  • die technologischen und ethischen Herausforderungen beim autonomen Fahren
  • die Schaffung neuer, moderner Mobilitätsangebote in einer Sharing-Economy
  • der Kampf klassischer Vertriebskanäle in einer zunehmend wichtigeren Plattformwelt

Jede dieser Herausforderung birgt das Potenzial, die Branche völlig neu zu sortieren. Heute – idealerweise schon gestern – müsste hierzu der Grundstein für den Wandel in der Branche gelegt werden. Sicherlich ließen sich über alle diese Themen detaillierte Analysen von IST- und SOLL-Situationen ableiten, das würde den Rahmen dieses Blogbeitrages aber deutlich sprengen. Deshalb konzentriere ich mich auf ein Thema, das wahrscheinlich für alle vier Themenbereich zum wesentlichen Gestaltungsfaktor gehört:

„Digitalkultur – wo bist du?“

Schaut man in die Berichterstattung zum Genfer Autosalon, dann übertrumpfen sich die Automotive OEMs mit Ankündigungen neuer und innovativer Produkte. Die PR- und Marketing-Maschinerie funktioniert also weiterhin gut. Doch ein Blick hinter die PR-Kulisse großer Messen offenbart, dass es eine große Herausforderung für Autokonzerne (und wahrscheinlich auch für andere Branchen) ist , alte Prozesse über Bord zu werfen zu überdenken, agiler zu Arbeiten und eine „Digitalkultur“ zu etablieren, die nicht auf einer hierarchischen „Befehlsstruktur“ basiert.

Mehrere Jahre Entwicklungszeit für ein neues Fahrzeug mögen gerechtfertigt sein, um Qualität und Sicherheit zu gewährleisten (siehe Tesla’s Verzögerung beim Model 3). In der digitalen Welt wartet der Kunde allerdings nicht darauf, dass der Autohändler und -hersteller seines Vertrauens eine neue digitale Lösung präsentiert. Zumal wenn es bereits andere Konkurrenten mit einer besseren etablierten Lösung gibt (z.B. Mobile.de). In der (Preis-) Transparenz des Internets ist das nächste Angebot nur einen Mausklick entfernt.

Die OEMs zeigen in ihren Strategiepapieren zwar alle das Thema „Digitalisierung“ als einen DER Treiber für die Branche auf. Doch zwischen Strategie und Umsetzung klaffen Lücken, die man schließen sollte muss, um weiterhin ein relevanter Player am Markt zu bleiben und nicht zum reinen „Blechbieger“ zu verkommen. Nur wie?

In einem Onlinekurs der Boston University bin ich auf einen interessanten Ansatz zur Erklärung des Dilemmas gestoßen. In den Unterlagen zum Kurs „Leading in the digital age“ ging es u.a. um Organisationsformen und deren Entwicklung über die letzten Jahre und Jahrzehnte.

Aus meiner Sicht gilt es zunächst hier anzusetzen, um die verkrustete bisher bewährte Organisation fit zu machen für die Digitalisierung des Unternehmens.

Henry Ford zeigte mit der Fließbandproduktion, dass durch eine klare Arbeitsteilung eine Kostenreduktion möglich ist. Der Output des Vorgängers wird zum Input des Nachfolgers. Die Wertschöpfung findet innerhalb des festgelegten Arbeitsprozesses statt, mit klarer Verantwortlichkeit in einem Bereich: Für die Produktion von physischen Fahrzeugen sicherlich auch heute noch ein effizienter Prozess der Arbeitsteilung.

Digitale Produkte aber entstehen (noch) nicht am Fließband, sondern v.a. in den Köpfen der Menschen, in der intelligenten Verknüpfung von Daten mittels Technologie und der Einbindung des Kunden in den Entstehungsprozess. Zwar gibt es mittlerweile Methoden zur kreativen „Entwicklung“ von digitalen Lösungen (z.B. Design Thinking), doch die Unsicherheit über den konkreten Erfolg einer Idee ist allgegenwärtig. Experimentieren, aus Misserfolgen lernen, das ist hier die Devise. In einer hierarchischen Organisation ist die Umsetzung von Experimenten – insbesondere über Silos hinweg – schwierig, weil unterschiedliche Fähigkeiten und Wissensträger für den „Entwicklungsprozess“ benötigt werden, die womöglich noch aus unterschiedlichen Bereichen stammen. Heterogene Teams zu bilden ist hier die Notwendigkeit.

Das Ergebnis aus dieser Erkenntnis? Die Matrix-Struktur! Diese habe ich am eigenen Leib erlebt und gelernt darin zu arbeiten. Schnell werden einem aber auch die Herausforderungen einer solchen Struktur bewusst. Ich persönlich bin überzeugt, dass eine Matrix-Organisation alleine noch nicht ausreicht, um herausragende digitale Lösungen zu entwickeln. Jede Uni-Vorlesung zu Organisationslehre zeigt, dass die Mitarbeiter in der Matrix im Spannungsfeld zwischen fachlichem und disziplinarischem Vorgesetzen hin und hergerissen sind. Zudem wird gerade bei der digitalen Produktentwicklung ein vollständiges Commitment des Mitarbeiters zu dem Team und dem Produkt notwendig. In der Konsequenz verlangt dieses neue Arbeiten eine veränderte Führungsqualität, dazu aber in einem separaten Blogbeitrag mehr.

Wie nun soll ein angestammter Automotive OEM eine 100%ige Leistungsbereitschaft für ein digitales Produkt schaffen? Die Unterlagen der Boston University bieten dazu einen weitreichenden Erklärungsansatz.

Die Aufforderung: Bildet Allianzen! Eine Allianz „der Willigen“ innerhalb des Unternehmens, aber vor allem auch mit externen Partnern Teammitgliedern, die benötigte Skills einbringen und das Team so überhaupt erst in die Lage versetzen, ausreichend PS auf die Straße bringen zu können. (dazu braucht es auch andere Formen der vertraglichen Zusammenarbeit, damit sich die Energie des Teams nicht in Compliance-Diskussionen verläuft…)

Nach ein paar Recherchen zu dem Thema und einer Analyse der eigenen Situation konnte ich einige Aspekte ausmachen, die für mich eine erfolgreiche Allianz ausmachen:

  • Eine gemeinsam entwickelte Vision des Produktes (common purpose)
  • Unbedingtes Vertrauen innerhalb des gesamten Teams (ring of trust)
  • Eine offene, ehrliche Feedbackkultur & jederzeitige Anpassung von Strukturen durch erzielte Learnings
  • Uneingeschränkte Transparenz im Team und in der Kommunikation mit Stakeholdern
  • Regelmäßiger, physischer Austausch mit dem gesamten Team (virtuell ist nett, ersetzt aber nicht das persönliche Gespräch)
  • „A digital Mindset“ (Fehlerkultur, MVP-Ansatz, …)

Ein Beispiel: Daimler und die Schwarmintelligenz

Daimler geht hier den Weg der Schwarmintelligenz. Ein für mich sinnvoller Ansatz. Man beachte jedoch, dass Dieter Zetsche in der medialen Aufmerksamkeit konstatiert, dass die „digitale Transformation“ seines Unternehmens in Richtung der Schwarmintelligenz nur 20% der Mitarbeiter betrifft. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass 80% des Unternehmens weiterhin in herkömmlichen (höchstwahrscheinlich hierarchischen) Strukturen unterwegs sein werden. In der Produktion erscheint mir dies auch durchaus sinnvoll, es bleibt aber eine offene Fragestellung, inwieweit die Akzeptanz neuer „Digitaleinheiten“ dann in den „Legacy“-Strukturen vorhanden ist.

Und dennoch, je mehr Gedanken ich mir zu dem Thema mache und je mehr ich darüber lese, umso mehr kann ich die Schwarmintelligenz-Richtung und das Umdenken des Daimler CEO nachvollziehen. Kleine, schlagkräftige Teams, die unabhängig an der Entwicklung kleiner Services arbeiten, um anderen Einheiten innerhalb dieser „Value Networks“ einen Mehrwert bieten zu können. So kann ich mir aussuchen, wer mir den besten Service für meinen jeweiligen Usecase bietet, egal ob die Digitaleinheit aus dem näheren (Konzern-) Umfeld stammt oder ein unabhängiger Anbieter am Markt ist. Allein die Qualität der Lösung und der Zuschnitt auf meine Bedürfnisse entscheidet, wer den Zuschlag für die Zusammenarbeit erhält.

Doch zurück zur Ursprungsfrage: Wie schaffe ich eine Digitalkultur im Konzern? Ich glaube an die Stärke des Teams, dass es herausragende Lösungen entwickeln kann, wenn man es möglichst autark daran arbeiten lässt. Die Antwort auf eine Digitalkultur im Konzern kann also nur lauten:

Eine Digitalkultur im Konzern zu etablieren ist nicht möglich!

Ich bin davon überzeugt, dass „Digitalteams“ außerhalb der angestammten Strukturen aufgebaut werden sollten. Durch den Mutter-Konzern gesteuert unterstützt, wie ein Venture Capital-Geber, der in einer Seeding-Phase den Grundstein für die Arbeit eines Teams an einer (möglicherweise) zukunftsweisenden Idee ermöglicht. Diese Idee sollte in einem ersten Minimal Viable Product (MVP) münden, dass seine Feuerprobe mit echten Kunden bestehen muss, um Feedback für die weitere Produktentwicklung zu erhalten.

Das Gründerteam agiert dabei eigenständig, ist für Erfolge und Misserfolge selbst verantwortlich und hat idealerweise alle Wertschöpfungsstufen in der eigenen Hand. Ist das Produkt nach einem Zeitraum X nicht erfolgreich und lässt sich keine positive Aussicht erkennen, dann ist es nur folgerichtig, dass eine weitere Finanzierung platzt. Das ist bitter für die Teams, die über mehrere Monate mit persönlichem Einsatz an dem Produkt gearbeitet haben, gehört aber untrennbar zum Kulturverständnis in der digitalen Welt dazu. Heute sind „kill your darling“ und/oder „FuckUp Nights“ ein Teil von digitaler Identität. Es heißt nun,  daraus zu lernen, um es bei der nächsten Idee besser machen zu können.


Das gilt natürlich auch für diese Gedanken, die ich niedergeschrieben habe, um daraus zu lernen, sie weiterzuentwickeln und andere Meinungen zum Thema anzuhören. Sicherlich gibt es bereits Teams und Strukturen (auch bei Automotive OEMs), die nach diesen (oder ähnlichen) Leitgedanken arbeiten. Ich würde mich freuen, davon zu hören und darüber zu diskutieren!