In letzter Zeit beschäftigt mich immer wieder die Frage, was Führung in der heutigen Zeit eigentlich bedeutet? Die prähistorische Phase der hierarchischen Befehlskette scheint vorbei, ich begegne immer mehr Kollegen und Freunden, die nach dem “WARUM?” fragen, bevor sie ihre Unterstützung für ein gemeinsames Ziel zusagen.


In den Recherchen zu den veränderten Führungsqualitäten in der digitalen Welt gibt es mittlerweile dutzende Bücher, Podcasts und Blogbeiträge. Besonders eine Story ist mir dabei aber im Gedächtnis geblieben: die von Reed Hastings, Jahrgang 1960, CEO von Netflix.

Wenn Reed Hastings am Morgen das Netflix Office in Los Gatos (CA, USA) betritt, lässt er sich durch die Räume treiben, lässt sich zwischen seinen Mitarbeitern Kollegen nieder – heute hier, morgen da. Ein eigenes Eckbüro mit Vorzimmer? Große Limousine mit getönten Scheiben? Alles Fehlanzeige! Hastings besitzt nicht diese klassischen Attribute eines einflussreichen (Industrie-) CEO und trotzdem revolutioniert er den TV-Markt mit seinem Angebot.

Bei den Recherchen rund um Hastings und sein Unternehmen fällt auf, dass man bei Netflix sehr viel Wert auf Kultur und das gemeinsame Verständnis dessen zu legen scheint, wofür Netflix gegründet wurde.

Entertainment, like friendship, is a fundamental human need; it changes how we feel and gives us common ground. Netflix is better entertainment at lower cost and greater scale than the world has ever seen. We want to entertain everyone, and make the world smile. Netflix Culture Memo

Dieser Ausschnitt aus dem Netflix Culture Memo steht Jedem offen zur Verfügung, der nach Stellen bei dem 11 Mrd.-Dollar-Umsatz-Unternehmen (2017) sucht. Das ist fair, gegenüber dem Bewerber, der ein wenig besser erahnen kann, worauf er sich dort einlassen würde. Netflix selbst macht aber auch keinen Hehl daraus, dass nur Höchstleistungen zum Bleiben berechtigen. Wer nicht zu den Besten gehört, muss gehen.

Das ist in vielerlei Hinsicht spannend, motiviert es doch den Mitarbeiter herausragende Produkte, Serien und Filme für Netflix zu entwickeln, um das Gesamtprodukt noch attraktiver zu machen und damit am Erfolg des Unternehmens zu wachsen. Auf der anderen Seite könnte man argumentieren, 12 Stunden Tage, unbedingte Erreichbarkeit via Smartphone in der Freizeit und wenig Urlaub sind die Schattenseiten. Der ständige Druck, Höchstleistungen zu bringen, könnte zum Burn-Out und damit einhergehenden Jobverlust führen.

An der Stelle finde ich die Aussagen des “New Work”-Experten Markus Albers in einem Interview bei t3n sehr spannend („Neue und alte Arbeitswelt gehen nicht zusammen!“, 30. April 2018). Albers sieht wachsende Popularität für neue Arbeitsmodelle auch bei Konzernen, stellt aber auch fest, dass Theorie nun auf die Praxis Menschen trifft. Erhoffte Verbesserungen dieser Arbeitsweise treten so nicht ein oder wirken sich sogar negativ zum Status-Quo aus.

Hier hat Hastings meiner Meinung nach verstanden, dass es auf seiner Führungsebene und bei der Gestaltung von Arbeitsmodellen nicht darum geht, Projekte und Mitarbeiter zu kontrollieren (“command & control”), sondern ihnen das Vertrauen zu schenken. Er definiert einen klaren Purpose seines Unternehmens (“We want to entertain everyone, and make the world smile.”). Er spricht mit den Kollegen, um seine Werte, seine Vision von Netflix mit ihnen zu teilen. Das schafft einen Sinn für jeden Mitarbeiter, um sich morgens aufzuraffen und mit Freude in die Arbeit zu gehen.

“Sich auf das Neue einlassen, ohne das Alte zu reduzieren” konstatiert Albers in dem t3n Interview. Die Erfahrungen die ich bisher gemacht habe, spiegeln diese Aussage 1 zu 1 wieder. Der Versuch ist zu erkennen, Freiräume für die Arbeit in produktiver Umgebung, unterwegs mit dem Smartphone oder auch mal am Wochenende einzuräumen. Doch dafür sollten sich Mitarbeiter auch bewusst Auszeiten nehmen, während die anderen Kollegen weiterhin im Büro ihre Aufgaben erledigen. Dieses scheint zumindest in meinem Umfeld noch nicht wirklich akzeptiert.

Ich bin mittlerweile dazu übergegangen Termine konsequent abzulehnen, die mir in meine Auszeiten-Blocker gelegt werden. Ob die sonnige Runde Jogging um den See, ein Eis mit Freunden in der Stadt oder das Erledigen von privaten Angelegenheiten in der “regulären Arbeitszeit” – das muss möglich sein und akzeptiert werden. Als Gegenleistung sitze ich auch häufig am Abend am Rechner, um die Idee, die dir bei der Joggingrunde gekommen ist, zu Papier zu bringen.

Und genau so stelle ich mir Arbeiten bei Netflix vor: Die Verantwortung für Höchstleistungen (um das beste Produkt zu entwickeln) und gleichzeitig die Freiheiten, um den Energie- und Ideenspeicher wieder aufzufüllen. Dieses Gleichgewicht zeichnet für mich das neue Kulturverständnis für digitale Unternehmen aus (oder die, die es mal werden möchten/müssen).

Make People Awesome!

“Make People Awesome”, hat mir mal ein Kollege gesagt. Reed Hastings hat es nach meinem Verständnis verstanden, wie man Kollegen motiviert und “awesome” macht. Das Zielbild muss scharf und die Frage nach dem “WARUM?” muss beantwortet werden. Dazu ist das Gespräch mit den Mitstreitern auf jedem Level unabdingbar. Das fasziniert mich am Führungsverständnis von Reed Hastings! Verstehen die Menschen in deiner Organisation das Zielbild und können für sich die Frage nach dem Warum beantworten, dann bin ich überzeugt, dass sie auf dem Weg zum Ziel richtige Entscheidungen treffen werden.

Vielleicht hilft dieser Text ja ein paar Konzern-Managern, weniger ihrer Zeit in Gremien und Jour Fixen zu verbringen, sondern sich einfach mal durch die Büros treiben zu lassen, unangekündigt und ehrlich. Wenn nicht, dann habe ich zumindest etwas für mein Verständnis von “Leadership” gelernt.